Das gute Wasser von Sham

In Syrien machen die Kämpfer der Terrormiliz »Islamischer Staat« selbst vor Klöstern und antiken Ruinenstädten nicht halt. Doch in Damaskus muss das Leben auch im Krieg weitergehen

Von Karin Leukefeld

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Verlassen und gezeichnet vom Krieg: Die Uzun-Straße in der Altstadt von Homs. Foto: Karin Leukefeld

Meine Fahrt nach Palmyra ist ausgefallen. Ende Mai wollte ich einige Tage in der Region um die Ruinenstadt und in Homs verbringen. Ich wollte mit den Menschen dort reden und Kriegsflüchtlinge im Kloster Deir Mar Elian bei Karjatain treffen, das zwischen Homs und Palmyra in der Wüste liegt. Doch einen Tag vor meiner Abfahrt wurde Tadmur, die moderne Nachbarstadt von Palmyra, von Tausenden Kämpfern der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) eingenommen. Zehntausende Einwohner flohen, die syrische Armee zog sich zurück, »um Menschenleben zu retten und um die Zerstörung von Palmyra zu verhindern«, wie es offiziell hieß.

International bangten und sorgten sich Archäologen und Politiker lautstark um die Ruinenstadt, das »Venedig der Wüste«. Die Medien waren voll mit Experten, die über Geschichte und Kultur Palmyras zu berichten wussten. Mamoun Fansa, in Aleppo geborener langjähriger Direktor des Oldenburger Landesmuseums für Natur und Mensch, warf der syrischen Armee im Deutschlandfunk vor, nicht gegen den IS gekämpft zu haben. Es sei »Aufgabe von Regierungen, Weltkulturerbe zu schützen«, sagte der Mann aus sicherer Entfernung in Deutschland. In der taz erschien sogar eine Art Nachruf auf Palmyra, als sei es verschwunden.
Als dann die schwarze Fahne der Islamisten über den Ruinen von Palmyra gehisst war und zunächst Dutzende, dann Hunderte Menschen vor der Kulisse der Ruinenstadt hingerichtet wurden, verstummten die Welt und die Medien. War es der »internationalen Gemeinschaft« peinlich, dass ihre »Anti-IS-Allianz« aus 62 Staaten nichts für die Rettung der Menschen und des Weltkulturerbes von Palmyra unternommen hatte? Neun Millionen US-Dollar fließen täglich in den Luftkampf ihrer tapferen Piloten, doch als der IS auf Palmyra marschierte, waren die Kampfjets aus den USA, Bahrain, Kanada, Jordanien, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten merkwürdigerweise nicht da.

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Einwohner von Homs malen bunte Motive auf Häuserwände. Mit der Aktion sollen geflohene Familien ermuntert werden, zurückzukehren und ihre Häuser wieder aufzubauen. Auch die Kinder aus der Nachbarschaft helfen mit Foto: Karin Leukefeld

Oder verstummte die Welt etwa aus Scham? Die wäre sehr wohl angebracht, denn die Männer, die mit der schwarzen Fahne mordend durch Syrien und durch den Irak ziehen, sind ihre eigenen Söhne. Unter den Augen der Geheimdienste gelangen sie bis heute nach Syrien, werden von ihren Bündnispartnern ausgebildet und ausgerüstet, um das Land zu zerstören. Niemand in Washington und London, in Paris und Berlin, in Brüssel, Tel Aviv, Ankara, Amman, Doha und Riad kann behaupten, er oder sie habe das nicht gewusst. Also ist es Absicht?
Dass es Kalkül ist, konstatierte ein Bericht des US-Militärgeheimdienstes (DIA) bereits im August 2012. Darin wurde darauf hingewiesen, dass genau das, was heute geschieht, geschehen könne und gewollt sei. Unter Punkt 8 c des DIA-Reports (jW dokumentierte am 28.5.2015) heißt es: »Wenn die Lage sich entwirrt, gibt es die Möglichkeit, dass – erklärt oder nicht erklärt – ein salafistisches Fürstentum im Osten Syriens etabliert wird. Und das ist genau, was die Mächte, die die Opposition unterstützen, wollen.« Bereits zuvor wird erläutert, dass es sich bei den »Mächten, die die Opposition unterstützen«, um »den Westen, die Türkei und die Golfstaaten« handelt, auch bekannt als »Freunde Syriens«.
Und warum unterstützen im 21. Jahrhundert Staaten der »westlichen Wertegemeinschaft« und ihre Verbündeten in der Türkei und den Golfstaaten, allesamt Unterzeichner der Charta der Vereinten Nationen, Milizen, die von den UN als Terrororganisationen gelistet werden, bei ihrem mörderischen Tun in Syrien? Auch auf diese Frage hat der DIA-Bericht eine Antwort: »um das syrische Regime zu isolieren, das als strategische Tiefe der schiitischen Expansion (Irak und Iran) betrachtet wird«. Der von den »Freunden Syriens« angeheizte Stellvertreterkrieg, der – so die Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) – in einer »Fragmentierung Syriens« enden könnte, wird in westlichen Medien weitgehend als »sunnitisch-schiitischer Machtkampf« oder »Religionskrieg« charakterisiert. Ein Religionskrieg im einzigen säkularen Land des Mittleren Ostens?

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Foto: jW Infografik

»Nein«, sagt der Großmufti von Syrien, »es geht hier nicht um die Konfessionen. Die Religion wird als Maske benutzt, wie ein Schleier, hinter dem das Morden vollzogen werden kann.« Vor der Revolution im Iran 1979 habe niemand von Sunniten oder Alawiten gesprochen, erklärt Ahmed Badr Al-Din Hassun in seinem Büro in Damaskus. »Weder hier bei uns noch im Libanon oder Jemen gab es diese konfessionellen Beschreibungen«, stellt der Geistliche klar. »Die Aufteilung in Sunniten und Alawiten ist ein Mittel, um Streit und Hass zwischen den Menschen zu schüren.« Und dann weist er auf etwas hin, was in deutschen »Leit-« und Massenmedien ausgeblendet wird: »In Latakia finden Sie 1,5 Millionen Menschen aus Aleppo, Sunniten und Christen. Und in Bab Tuma in Damaskus finden Sie christliche Hilfsorganisationen und Kirchen, die Muslime aufgenommen haben. Wenn Sie an der Universität die Studierenden sehen, können Sie keinen Unterschied erkennen, wer Sunnit oder Alawit ist, sie leben wie Geschwister. Sie sind die Generation von morgen, unter ihnen gibt es keine konfessionelle Abgrenzung.«
Flucht aus Palmyra
Pater George Khoury von der syrisch-katholischen Gemeinde aus Palmyra treffe ich als Vertriebenen in Homs. Schmal und blass geworden begrüßt er mich im schattigen Eingang des Hotels, in dem er mit seiner Familie Zuflucht gefunden hat. An dem weißen Kragen ist der jugendlich wirkende Mann als Geistlicher zu erkennen. Seit zehn Jahren betreut er 55 christliche Familien aus Tadmur. Viele von ihnen lebten auf den Phosphatminen außerhalb der Stadt. Vier Kirchen gibt es in Tadmur, zählt Pater George auf. Doch nur eine davon wurde zuletzt noch genutzt. 2011 stand ein kleines, von der Gemeinde gebautes Hotel kurz vor der Eröffnung. »16 Zimmer hatte es und sollte den christlichen Besuchergruppen dienen, die damals nach Palmyra kamen.« Sein Blick senkt sich.
Vor zweieinhalb Jahren etwa sei es in Tadmur »unruhig« geworden, erinnert er sich dann. Gewisse »Gruppen« seien aufgetaucht, die »in ganz Syrien Probleme bereiten«. Die syrische Armee habe dafür gesorgt, »dass das Leben sich wieder weitgehend normalisieren konnte«, doch mit dem Ausbleiben des Tourismus, den Wirtschaftssanktionen Europas und der anhaltenden Unsicherheit hätten immer mehr Menschen ihre Arbeit verloren. Die Gemeinde war, wie fast alle Einwohner von Tadmur, auf Hilfsgüter angewiesen. Er habe diese – mit Begleitschutz der Armee – regelmäßig aus Homs abgeholt.

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Pater Jacques Mourad vom Kloster Deir Mar Elian wurde am mit einem Glaubensbruder am 21. Mai von Bewaffneten verschleppt. Die beiden Männer werden noch immer vermisst (Archivbild vom Februar 2014) Foto: Karin Leukefeld

Mitte Mai habe »die Krise« begonnen, sagt der Pater und benutzt einen Begriff, mit dem die Syrer den Krieg in ihrer Heimat umschreiben. Etwa 200 Kämpfer des IS seien nach Tadmur eingedrungen, von der Armee aber wieder vertrieben worden. Am 20. Mai kamen die Angreifer dann zu Tausenden zurück, die Armee war dem Ansturm nicht gewachsen. »Ich sagte den Familien, sie sollten sich auf die Flucht vorbereiten«, erzählt Pater George. »Wir bildeten einen Konvoi, dem sich auch muslimische Familien anschlossen, und wir flohen in Dörfer, die näher an Homs liegen.« Der Pater zählt Sadat, Haffar und Karjatain auf, wo ebenfalls christliche Gemeinden beheimatet sind. Hier hätte man die Vertriebenen aus Tadmur/Palmyra aufgenommen. Dass es auch dort nicht sicher ist, erfuhren sie erst nach ihrer Ankunft.
Als Pater George Khoury mit den Familien vor den anrückenden Islamisten floh, bereitete sich Pater Jacques Mourad im Kloster Deir Mar Elian bei Karjatain auf die Ankunft der Vertriebenen vor. Am Telefon hatte er am Morgen berichtet, dass Matratzen und Decken sowie Nahrungsmittel und Medikamente für die Menschen aus Palmyra bereitgestellt seien. Kurz nach dem Telefonat verschleppten drei vermummte Bewaffnete Pater Jacques und Boutros Hanna, einen Mitarbeiter. Bis heute fehlt von ihnen jede Spur.
Figuren im großen Spiel
Jenseits der täglichen Schreckensmeldungen geht in den großen syrischen Städten das Leben weiter. Studierende bereiten sich dieser Tage intensiv auf ihre Prüfungen vor, an der Universität von Damaskus ist fast kein Durchkommen. »Respect – don’t attack« (Zeige Respekt – greife nicht an) steht auf einem T-Shirt. Neugierig sehen die jungen Leute mir, der Ausländerin, hinterher. Hier und selbst an Kontrollpunkten von Armee und Polizei heißt es immer wieder: »Welcome to Syria« – Willkommen in Syrien.

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Pater George Khoury leitet die syrisch-katholische Gemeinde aus Tadmur/Palmyra Foto: Karin Leukefeld

»Wir sind einfach zu freundlich«, grinst Salim, als ich die Aufgeschlossenheit der Leute mir gegenüber beschreibe. »Welcome to Syria – wir haben all die Terroristen einfach ins Land gelassen.« Wie früher ist Salim zu Scherzen aufgelegt, und ich freue mich, ihn, Julia und Safwan nach langer Zeit wiederzusehen. Seit 2011 hatte ich die drei und ihre Freunde immer wieder getroffen, um ihre Meinung über das Geschehen in Syrien zu erfahren. Alle kritisierten die Regierung, alle lehnten aber auch die Anwendung von Gewalt ab und misstrauten der Auslandsopposition. Salim berichtet nun, dass er die Arbeit mit dem Kulturverein »Nachnu« (Wir) ausgebaut habe. Einmal wöchentlich zeigten sie einen Film, mit ihrer Theatergruppe hätten sie schon viele Auftritte gehabt. Neben seiner Arbeit bei einer Versicherung habe er angefangen, Journalismus zu studieren. Er hoffe, später als Regisseur zu arbeiten. Und wie geht es Michel, mit dem er ein »Fußballspiel der Versöhnung« geplant hatte? Salim lacht: »Er hat sich verliebt, wir bekommen ihn so gut wie gar nicht mehr zu sehen.« Julia hat mittlerweile ihren langjährigen Verlobten Baschir geheiratet und hilft ihm in dem kleinen Restaurant, das er – neben seinem Hauptberuf als Chefkoch im Industriezentrum der Damaszener Vorstadt Adra – in der Altstadt eröffnet hat. Safwan ist aktiv wie eh und je und hilft mit Freunden und Gleichgesinnten Inlandsvertriebenen, die in Sehnaja, dem Vorort in dem er lebt, Zuflucht gefunden haben.
Vorstellungen für ihre Zukunft hätten sie nicht mehr, geben die drei zu. Leben und überleben in Würde, das sei jetzt wichtig. »Alle sind Spielfiguren in dem großen Spiel«, meint Julia. »Wir, die Kampfgruppen, die Regierung, selbst die Türkei und die anderen Staaten in der Region«, ist sie überzeugt. Russland und die USA bestimmten das Spiel, und »vielleicht haben sie sich schon darauf geeinigt, dass es hier so bleibt, wie es jetzt ist«. Den Vorwurf der Auslandsopposition von der »Nationalen Koalition«, dass Syrien »vom Iran besetzt« sei, weist Julia mit dem Wort »lächerlich« zurück. Man sei wirtschaftlich und politisch zwar abhängig vom Iran und von Russland wegen der hohen Schulden, fügt Baschir hinzu. Doch »wenn ich als einfacher Mensch wählen soll zwischen ›Daesch‹ (dem IS; jW) und dem Iran, dann wähle ich natürlich den Iran«. Dort stoße man zumindest auf Verständnis.
Sehnsucht nach Frieden
In der Lobby des kleinen Familienhotels ist es ruhig an diesem Morgen. Am Fenster sitzt die Lehrerin Frau K., die täglich den Studenten Maamun (Name geändert) auf seine Englischprüfung vorbereitet. Fast jeden Tag trägt sie ein anderes geschmackvolles Kopftuch, das sie ab und zu vor der breiten Spiegelwand zurechtzupft. Heute prangen kleine rote Rosenranken auf dem Tuch, farblich passend zu der schlichten Tunika, die weit über die Hose fällt. »Good Morning«, grüßen Lehrerin und Schüler herüber, dann beugen sie sich wieder konzentriert über die Aufgaben.
Das Team der kurdischen Arbeiter, die für die Küche, die Zimmerreinigung und viele Sonderwünsche der Gäste zuständig sind, sitzt bei arabischem Kaffee und diskutiert lebhaft. Sie sprechen den Kurmanci-Dialekt der Kurden in der Türkei und im Norden Syriens. Im Fernsehen läuft eine Dokumentation über asiatische Arbeiter, die sich verschulden, um in den Golfstaaten oder bei der US-Armee in Afghanistan Arbeit zu finden. Der Manager des Hotels ist sich bewusst, dass seine Angestellten wenig verdienen, doch seien sie versichert. Ihr Leben sei allemal besser als das der Menschen, über die die Dokumentation berichtet.
Hanan, einer der Arbeiter, sieht das anders. »Seit 25 Jahren arbeite ich hier und bekomme jeden Monat 100 US-Dollar«, rechnet er vor. Früher sei das genug gewesen. Außerdem habe er nachmittags eine zweite Arbeit gehabt und gut verdient. »Doch jetzt ist alles fünfmal so teuer wie früher. Das Geld reicht vielleicht drei Wochen, dann ist Schluss.« Die zweite Arbeit habe er verloren, aber »zu Hause habe ich meine Frau und drei Kinder«. Einen Kredit aufzunehmen, um einen Arbeitsplatz zu bekommen, finde er nicht schlecht, meint Hanan: »Wenn ich dann 400 US-Dollar verdiene, kann ich jeden Monat 100 Dollar Schulden abbezahlen, habe aber dreimal soviel zum Leben.« »Und was ist mit deiner Familie?« fragt Nabil, der Rezeptionist. »Jahrelang werdet ihr getrennt leben müssen.« Hanan wird still und nickt. Die Familie sei wichtig, räumt er ein. Die Töchter gingen in die Schule, die Familie habe ihre eigene Wohnung, müsse keine Miete bezahlen, und das Leben in Damaskus sei immer gut gewesen. »Wenn wir nur wüssten, wann dieser Krieg vorbei ist«, seufzt er. »Haram, das ist eine Schande!«
Zwei Kollegen von Hanan sind vor einigen Monaten in die Türkei gegangen. Der eine arbeitet nun als Erntehelfer irgendwo auf dem Land, der andere, Mohammed, lebt mit der Familie in Istanbul. »Die ganze Familie von Mohammed arbeitet dort in der Textilindustrie, die Kinder gehen nicht mehr zur Schule«, erzählt Hanan. Manchmal telefonierten sie noch miteinander. Am Abend zuvor habe er eine SMS aus Istanbul erhalten: »Wie geht es denn so?« habe Mohammed gefragt. Hanan stellte die Gegenfrage, ob er Sham – so lautet der traditionelle Name für Damaskus – nicht vermisse. »Jeden Abend!« antwortete der Kollege aus Istanbul. »Nirgends schmeckt das Wasser so gut wie in Sham.«

entnommen: Junge Welt, 20.6.2015
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